Ausbildung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen

Verfasserinnen: Olha Bilous und Svitlana Konstantinyuk, studieren Geschichte an der Universität Černivci



Nach dem ukrainischen Gesetz Über die Bildung handelt es sich bei inklusiver Bildung um um das Recht auf Bildung von Personen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Verschiedene Angebote sollen deren Sozialisierung und Integration in die Gesellschaft gewährleisten. Dem modernen Verständnis dieses Problems gingen Jahre der tatsächlichen Isolation von Kindern mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen voraus. Derzeit versuchen die ukrainische Regierung und die Gesellschaft, Stigmatisierung und Ablehnung zu überwinden und das Prinzip der inklusiven Bildung erfolgreich umzusetzen.

Die Entwicklung der ukrainischen inklusiven Bildung von der Sowjetzeit bis zur Gegenwart wird in folgende Phasen unterteilt:

  • 1922-1950: Übergang zur allgemeinen Schulpflicht; Errichtung spezieller Einrichtungen für Kinder mit Seh-, Hör- und geistigen „Beeinträchtigungen“
  • 1950-1991: Verbreitung von speziellen sonderpädagogischen Einrichtungen
  • 1991-2010: die erste Phase des Übergangs zur inklusiven Bildung unter den Bedingungen der unabhängigen Ukraine
  • seit 2010: Einführung inklusiver Klassen, Reduzierung der Anzahl der Sonderinternatsschulen

1925 unterstellte die Regierung der ukrainischen sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) alle bestehenden staatlichen Einrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen dem Hauptministerium für soziale Bildung und polytechnische Bildung von Kindern des Volkskommissariats für Bildungswesen der SSR. Laut einer Statistik der Einrichtung machten Kinder mit bestimmten Entwicklungsstörungen zu diesem Zeitpunkt etwa 5 Prozent der minderjährigen Bevölkerung aus. Aufgrund der extrem geringen Anzahl von Sonderschulen besuchten von 25.000 Kindern mit Seh- und Hörbehinderungen nur 2.000 die Schule. Allmählich wurden getrennte Klassen und sogenannte Hilfsschulen für Kinder mit geistiger Beeinträchtigung geschaffen, ein erheblicher Teil von ihnen blieb jedoch in normalen Schulen, aus denen sie später einfach ausgeschlossen wurden, weil sie das Lehrmaterial nicht erfassen konnten.

In den Hilfsschulen wurden spezielle Lehrpläne entwickelt. Methodische Richtlinien für die Arbeit mit Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen wurden ausgearbeitet. Die Hauptaufgabe der Hilfsschulen in der Sowjetzeit bestand darin, ein Kind so zu erziehen, um künftig den „sozialistischen Aufbau“ mit voranzutreiben.

Nach den Forschungen des Wissenschaftlers M. M. Malofejewa umfasste das spezielle Sonderpädagogiksystem der SSR am Vorabend des Zweiten Weltkriegs 129 spezielle Sonderschulen, darunter 84 für Gehörlose, 18 für Blinde und 27 für geistig „Behinderte“ (die Gesamtzahl der Schüler betrug 14.000)1.

In den 1950er Jahren gab es 8 Arten von speziellen Sondereinrichtungen für verschiedene Kategorien von Kindern mit Beeinträchtigungen: für Blinde, Sehbehinderte, Gehörlose, Hörgeschädigte, geistig „Behinderte“, mit Erkrankungen des Bewegungsapparates, mit schweren Sprachstörungen und mit mentaler „Beeinträchtigung“. Dabei war es wichtig auch Studierende in der Blindenschrift und Gebärdensprache auszubilden.


Unterrichtsszene
Unterricht in der ersten Klasse der Hilfsschule Černivci für Kinder mit geistigen „Beeinträchtigungen“ (Quelle: Schularchiv der Hilfsschule Černivci)


In den Jahren 1940-1950 wurde nach der Annexion der nördlichen Bukowina und Bessarabiens an die ukrainische SSR das sowjetische Modell der Erziehung von Kindern mit Beeinträchtigungen eingeführt: Die Zahl der speziellen Sonderschulen nahm zu, zwei Schulen wurden für Kinder mit geistigen „Beeinträchtigungen“ eröffnet und eine Schule für Schüler mit Hörbehinderung. Zuvor gab es nur das „Institut für blinde und taubblinde Kinder“, das während der Habsburger Monarchie gegründet wurde. Alle diese Bildungseinrichtungen befanden sich in Černivci.

Die Resolution des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion Über die Organisation von Internatsschulen (1956) markierte den Anfang von speziellen sonderpädagogischen Einrichtungen für Kriegsinvaliden, Waisen und Kinder aus benachteiligten Familien. In vielen Teilen des Landes hatten die Bildungsbehörden Schwierigkeiten, Internatschulen zu belegen, während es an anderer Stelle nicht genügend Plätze für geistig „behinderte“ Kinder gab.

Aus den Archivquellen des Staatsarchivs Černivci für die Jahre 1945-1955 geht hervor, dass der Schwerpunkt auf der patriotischen Erziehung lag und dass sich die Methoden in speziellen Sonderschulen nicht von denen anderer Institutionen unterschieden. Die Kinder bereiteten Auftritte für die sowjetischen Feiertage vor und sie wurden im Geiste sozialistischer Ideen erzogen. Im täglichen Leben der Schülerinnen und Schüler der Internatsschulen konnten die Kinder eine spezielle Interessensgemeinschaft besuchen. Jedem Kind wurde ein Teil des Gartens zugewiesen, um den es sich kümmern musste. Manchmal konnten die Kinder auch historische und beliebte Filme anschauen.

Der Ausbildung auf einen Beruf wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt, deswegen arbeiteten die Schülerinnen und Schüler seit der 4. oder 5. Klassen in den Werkstätten, die an der Schule eingerichtet worden waren.

Im Schuljahr 1959/60 gab es in der ukrainischen SSR 165 spezielle Sonderschulen mit 20.000 Kindern. Innerhalb von neun Jahren stieg die Zahl der speziellen sonderpädagogischen Einrichtungen auf 314, während die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler auf 53.000 stieg. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit geistigen „Beeinträchtigungen“ erreichte 1968 38.500, was fast dem Dreifachen von 1959 entspricht.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklären dies damit, dass die Sowjetregierung ihre Einstellung zur Erziehung von Kindern mit psychischen Störungen geändert hat. Das Ziel des sowjetischen Bildungssystems war es, die arbeitsfähige Bevölkerung zu erziehen, sodass sie „für die Gesellschaft nützlich“ wäre. Daher lag der Schwerpunkt nicht darauf, Kindern mit besonderen Bedürfnissen zu helfen, sondern sie mit anderen gleichzusetzen.


Nähwerkstatt
Unterricht für Mädchen in einer Nähwerkstatt, die in der Hilfsschule Černivci eingerichtet wurde (Quelle: Schularchiv der Hilfsschule Černivci)


Bereits in den 1970er Jahren wurden die Lehrpläne der speziellen Sonderschulen aktualisiert, sodass die Arbeit von den zuständigen Diensten, die für die Einschreibung der Kinder in die speziellen Sonderschulen zuständig waren, geregelt wurde. Während der Ausbildung in speziellen sonderpädagogischen Einrichtungen wurde der sogenannten Korrekturarbeit zur Korrektur der Entwicklungsstörungen von Kindern immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Zum 1. Oktober 1990 hatten in der ukrainischen SSR von 20.991 Lehrerinnen und Lehrer nur 4.236 eine höhere Defektologie-Korrekturpädagogik Sonderausbildung, wie es zeitgenössisch hieß und was natürlich viel über den Blick auf Beeinträchtigung sagt, was 20 Prozent entspricht. Bis Anfang der neunziger Jahre waren in nur vier der 15 Unionsrepubliken Sonderfakultäten für Defektologie-Korrekturpädagogik tätig, von denen sich eine in Kiew befand. In sonderpädagogischen Einrichtungen, die weit vom Zentrum entfernt waren, lag die Zahl der zertifizierten Defektologie- Korrekturpädagogik Sonderpädagogen nie über 10-12 Prozent, was einer der offensichtlichen Gründe für die geringe Qualität der Bildung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen war.2

Olga Dobrzhanska ist Direktorin der speziellen Schule №3 in Černivci, die die mangelnde Qualifikation der sowjetischen Lehrerinnen und Lehrer kritisiert. Dokumente aus dem Černivcier Archiv belegen auch die Unfähigkeit unqualifizierter Lehrer, die Arbeit mit Kindern mit bestimmten Beeinträchtigungen ordnungsgemäß zu organisieren. Aufgrund von Inspektionen wurden zahlreiche Mängel in der Arbeitsweise der Lehrerinnen und Lehrer der Černivcier Internatsschulen für taubstumme Kinder №2 aufgedeckt. Insbesondere bei Experimenten und Laborarbeiten gelang es nicht, das Material von den Studentinnen und Studenten auf ein gleiches Niveau zu bringen. Methodische Arbeit wurde nur formal durchgeführt und die Lehrerinnen und Lehrer waren nicht in der Lage, die Disziplin unter den Schülerinnen und Schülern zu verbessern und Kontakt zu den Kindern aufzunehmen.

Aufgrund unserer Forschung können wir den Schluss ziehen, dass das in der Sowjetunion geschaffene Bildungssystem für Kinder mit besonderen Bedürfnissen diese qualitativ nicht in den Bildungsprozess und die allgemeinen Sozialisierungsprozesse einbeziehen konnte.



Inklusive Bildung heutzutage: Schritt für Schritt zum Ziel



Am 5. Juli 2017 unterzeichnete Präsident Petro Poroshenko das Gesetz Über Änderungen des ukrainischen Gesetzes. Dort wurden Anpassungen in den Bereichen Bildung und in Hinblick auf den Umgang mit Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorgenommen.

Darin wurden auch Änderungen hinsichtlich des Zugangs von Personen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu Bildungsdienstleistungen festgelegt. So wurde das Recht von Kindern mit verschiedenen „Beeinträchtigungen“ verankert in allen Bildungseinrichtungen, einschließlich staatlicher und kommunaler Bildungseinrichtungen, unabhängig von der „Feststellung einer Beeinträchtigung“, Bildung zu erhalten.

In den letzten Jahren hat die Ukraine erhebliche Erfolge bei der Umsetzung der inklusiven Bildung erreicht, und unsere Stadt ist keine Ausnahme. Zum Beispiel sollte angemerkt werden, dass es 2011 in Černivci nur eine inklusive Klasse gab, die auf der Grundlage einer allgemeinen Schule betrieben wurde. Letztes Jahr stieg ihre Zahl auf 105. In jeder inklusiven Klasse gibt es eine Assistenz des Lehrers, die nicht nur mit dem Kind mit besonderem Bildungsbedarf, sondern auch mit allen anderen Schülerinnen und Schülern in der Klasse arbeitet. Die Assistenz der Lehrkraft kann ein Elternteil, ein von ihm entsprechend Beauftragter oder eine Sozialarbeiterin oder ein Sozialarbeiter sein. Die Assistentin oder der Assistent der Lehrkraft kann während des Unterrichts und bei außerschulischen Aktivitäten anwesend sein, sowie bei Klassenwechseln, beim Wechseln der Kleidung und bei der Ernährung der Kinder helfen. Die Assistenz eines Kindes kann in den Bildungsprozess einbezogen werden, um Verhalten zu korrigieren. Diese Arbeitsstelle wurde auf der Grundlage eines schriftlichen Antrags der Eltern, eingeführt. So wird ein neues System der gemeinsamen Erziehung gesunder und „besonderer“ Kinder für die ukrainische Erziehung eingeführt, um diese Kinder bestmöglich in die Gesellschaft zu integrieren.

Wie Olga Dobrzhanska uns in einem Interview mitteilte, wird die spezielle allgemeine Schule Nr. 3 in Černivci vollständig aus dem Stadtbudget finanziert. Um eine inklusive Bildung zu entwickeln, stellt der Staat erhebliche Mittel für den Kauf von Spezialausrüstung für weiterführende Schulen bereit. Insbesondere im Jahr 2019 wurden rund 603.000 UAH, ca. 18.000 €, für den Kauf spezieller Korrekturmittel, didaktischer Mittel und Ausrüstungen in allgemeinen Sekundarschulen in Černivci bereitgestellt. Dank einer Beihilfe aus dem Staatsbudget für die staatliche Unterstützung von Personen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Sekundarschule Nr. 24 und der Sekundarschule Nr. 27 wurden die Schulen mit modernen Sinnesräumen ausgestattet. Kinder, die sowohl in Sonder- als auch in allgemeinbildenden Einrichtungen lernen, erhalten daher eine entsprechende Unterstützung.


Zimmer des Korrekturpädagogikunterrichts
Das Zimmer des Korrekturpädagogikunterrichts in der speziellen Schule №3 in Černivci


Einrichtungen wie die Inklusion-Ressourcen-Zentren (IRZ), die eine umfassende Einschätzung des sonderpädagogischen Bedarfs des Kindes, eine psychologische Unterstützung für Eltern und Entwicklungsdienste für Kinder kostenlos bieten, sollen Eltern bei der Wahl der Form der Bildungseinrichtung unterstützen. In der Regel wird ein IRZ in einem Bezirk oder in einer Stadt gebildet und kann 7.000 oder 12.0000 Kinder betreuen. Dadurch wird das territoriale Prinzip des Zugangs zu Entwicklungsdienstleistungen umgesetzt. Derzeit gibt es zwei IRZ in Černivci (im Gebiet Černivci 16), und ein drittes Zentrum ist ebenfalls geplant.

Alle IRZ arbeiten nach international anerkannten Diagnosemethoden sowie nach psychologischen und pädagogischen Bewertungskriterien:


Zimmer des Korrekturpädagogikunterrichts
IRZ in dem Gebiet Černivci nach Angaben der staatlichen Bildungsverwaltung von Černivci


Im Rahmen des Projekts wurde von uns ein Interview mit Anna Stratulat, Direktorin des Černivcier IRZ Nr.2 durchgeführt. Das Zentrum weist Zimmer für einen Korreturpädagogen, einen Logopäden, einen praktischen Psychologen, einen Lehrer-Rehabilitationsspezialisten und ein Zimmer für soziale und häusliche Orientierung auf. Jeder Raum ist gemäß den Anforderungen der Spezialistinnen und Spezialisten ausgestattet, insbesondere mit speziellen Geräten zur Stimulierung der Wahrnehmungssysteme, von denen ein Teil eigens vom Personal des Zentrums entwickelt wurde, sowie mit Bädern, Trainingsgeräten, Trockenbecken und vielem mehr. Die Räumlichkeiten des Zentrums sind für Menschen mit körperlichen „Beeinträchtigungen“ ausgestattet. Das Zimmer für soziale Orientierung verfügt über ein Bett, Stühle für Sachen, ein Lernspielbrett und eine Schaufensterpuppe. Hier lernen Kinder wie sie sich um sich im Alltag kümmern können.


Zimmer des Korrekturpädagogikunterrichts
Das Zimmer für soziale und häusliche Orientierung im Černivcier IRZ


Wie Anna Stratulat uns mitteilte, sind die Entscheidungsträger für die Wahl einer allgemeinen oder besonderen Bildungseinrichtung die Eltern. Das IRZ versucht, Kinder an territorial angeschlossene Bildungseinrichtungen zu verweisen. Wenn es jedoch am Wohnort des Kindes keine Bildungseinrichtung gibt, die über Spezialistinnen und Spezialisten für die Arbeit mit Kindern mit besonderem Bildungsbedarf verfügt, schließen die Eltern eine Vereinbarung mit der Bildungsverwaltung, die den Eltern Transporthilfe bietet.

Unter den Bedingungen der Quarantäne wird die Arbeit dennoch fortgesetzt. Für die Eltern von Kindern, die nicht über die entsprechende technische Ausrüstung für Fernunterricht verfügen, drucken die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums die erforderlichen Materialien aus, veröffentlichen sie in sozialen Netzwerken oder senden sie per E-Mail. Trotz der Unannehmlichkeiten, die durch den Fernunterricht entstehen, besteht ein wesentlicher Vorteil darin, dass keine zusätzlichen Ablenkungen vorhanden sind und der Unterricht gegebenenfalls erneut nachgeschaut werden kann.


Zimmer des Korrekturpädagogikunterrichts
Korrektur- und Entwicklungsunterricht im IRZ №2


Zimmer des Korrekturpädagogikunterrichts
Videoausschnitt mit einer Übung zur Aneignung der Begriffe des Lehrmaterials „gerade Zahlen“


Wenn wir die Veränderungen, die in den letzten Jahren eingeführt wurden analysieren, können wir feststellen, dass unser Staat das sowjetische Konzept der Sonderschulen allmählich aufgibt und allen Kindern gleiche Chancen für die Teilnahme an der Gesellschaft bereitstellen möchte.


Quellen:

[1] Малофеев Н. Н. Специальное образование в меняющемся мире. Россия. - М., 2009. - Ч. 2. - С. 213. URL: https://studfile.net/preview/3962406/page:31/#38

[2] Малофеев Н. Н. Специальное образование в меняющемся мире. Россия. - М., 2009. - Ч. 2. - С. 217. URL: https://studfile.net/preview/3962406/page:35/