„Denn das große Sterben in den Anstalten war kein Geheimnis mehr“1 - Euthanasie in Schwaben

Verfasserin: Christina Eiden, Doktorandin an der Universität Augsburg (Transnationale Wechselbeziehungen)



Die erste psychiatrische Klinik in Schwaben entstand Ende der 1820er Jahre in Irsee. Dort sollte das säkularisierte benediktinische Klostergut als Heil- und Pflegeanstalt dienen. Eröffnet wurde sie als Kreis-Irrenanstalt am 1. September 1849 und gehörte zu den „modernsten“ Psychiatrien in ganz Bayern. Zunächst sollten etwa 80 Patientinnen und Patienten behandelt werden. Es folgten zahlreiche Aus- und Umbauten, sodass ab 1855 etwa 270 Menschen aufgenommen werden konnten. Zu diesem Zeitpunkt sollten Zwangsmaßnahmen vermieden werden und es fand Schulunterricht sowie ein kulturelles Programm für die Patientinnen und Patienten statt. Später wurde die Einrichtung in Irsee als Nebenstelle der 1876 in Kaufbeuren eröffneten Heil- und Pflegeanstalt geführt.


Kloster Irsee
Kloster Irsee Blindentastmodell des Metallkünstlers Egbert Broerken, aufgestellt im Dezember 2011. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.


Entbehrungsreiche Jahre, der Erste Weltkrieg, überfüllte Krankenhäuser und die öffentliche Meinung, dass es sich bei Menschen mit Beeinträchtigung um „unheilbare und nutzlose“ Menschen handle, führte zu den Krankenmorden unter den Nationalsozialisten. Über 400 Menschen wurden in Folge des „Euthanasie-Erlasses“ vom 1. September 1939 in den Jahren 1940 und 1941 aus Irsee nach Grafeneck und Hartheim deportiert und im Rahmen der t4-Aktion ermordet. Das NS-Regime verpflichtete Heil- und Pflegeeinrichtungen, Meldebögen über die Patientinnen und Patienten auszufüllen. Krankheiten wie Schizophrenie, Epilepsie, Demenz, Syphilis, Chorea Huntington oder Enzephalitis mussten von Ärztinnen und Ärzten, Krankenschwestern, Pflegerinnen und Pflegern und Hebammen unverzüglich gemeldet werden. Darauf basierend wurden Listen mit Patientennamen erstellt, die als Grundlage für die Transporte in die Tötungsanstalten galten. Es folgten 1941 mit dem „Hunger-Erlass“ weitere Ermordungen: Durch Injektionen, Tabletten sowie "Entzugskost" starben nochmals 800 Menschen. In Irsee wurde bis zum 29. Mai 1945 gemordet.

Eines der Opfer war Viktoria T., die als Zwangsarbeiterin aus Leszno auf einem Bauernhof bei Beilngries arbeiten musste und dort schlecht behandelt wurde. Der Umgang mit ihr wirkte sich negativ auf ihre Arbeitskraft aus. In Hinblick auf weitere Arbeitseinsätze wurde sie daraufhin für untauglich befunden und vom Amtsarzt als „geisteskrank“ eingestuft. Mangelnde Deutschkenntnisse verhinderten eine Verständigung mit den Ärzten und es folgte am 17. November 1944 die Überweisung nach Irsee. Dort wurde nur ein Eintrag am 1. Februar 1945 in die Krankenakte vorgenommen: „Exitus. Bronchopneumonie.“ Es liegt nahe, dass sie von der aus der Berliner „Euthanasie“- Zentrale gesandten Krankenschwester Pauline Kneißler ermordet wurde, die innerhalb eines Jahres mehr als 200 Frauen mittels Medikamenteneinsatz tötete. Viktoria T.s Leiche wurde verbrannt und als Nummer Fu 69/140 auf dem Urnenfriedhof in Irsee beigesetzt. Viktoria T. stellte keinen Einzelfall dar, denn viele weitere Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter wurden auf diese Weise umgebracht.


Kaufbeuren Archiv Zwangsarbeit
Mitteilung über die Überweisung einer polnischen Zwangsarbeiterin nach Irsee. Quelle: Archiv BKH Kaufbeuren, Akten zu Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern.


Im Rahmen der Augsburger Strafprozesse (07.07. bis 30.07.1949) über die Euthanasie-Verbrechen in Irsee und Kaufbeuren sollten die nationalsozialistischen Massentötungen aufgearbeitet werden. Angeklagt waren der ehemalige ärztliche Direktor, Dr. Valentin Faltlhauser, zwei Krankenschwestern, ein Pfleger und ein Verwaltungsbeamter – sie erhielten überwiegend geringe Haftstrafen. 149 Personen wurden nach Zusammenbruch von NS-Deutschland wegen Euthanasieverbrechen angeklagt, 74 davon wurden freigesprochen, andere zum Tode verurteilt. Exkulpationsstrategien der Täterinnen und Täter waren gerade bei den Behindertenmorden erfolgreich. Häufig wurde erst während der Prozesse rekonstruiert, was in den Heil- und Pflegeanstalten und in den Psychiatrien geschehen ist.

Die Psychiatrie in Irsee wurde im Jahre 1972 wegen baulicher Mängel geschlossen. Inzwischen wurde die Klosteranlage als Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum des Bezirks Schwaben wiedereröffnet. Besonders durch das Engagement des ehemaligen Direktors des BKH Kaufbeuren, Prof. Dr. Michael von Cranach wurden die Patientenmorde umfassend aufgearbeitet. Heute gibt es auf dem Klostergelände drei Gedenkorte: Dazu gehören Stolpersteine, ein Monument und Gedenktafeln.


Stolpersteine Irsee
Stolpersteine Irsee
Stolpersteine erinnern an die Opfer der Euthanasie-Morde in Kaufbeuren und Irsee. Auch etliche Jahre nach der Legung stellen sie einen aktiven Gedenkort dar. Quelle: Wikimedia Commons, Robert Domes, CC BY-SA 3.0

Zum Weiterlesen:

Burkhardt, Anika: Das Euthanasie-Unrecht vor den Schranken der Justiz: eine strafrechtliche Analyse, 2015.

Schulze, Dietmar: „Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord“. Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee, Irsee 2019.


Quellen:

[1] Magdalena Heuvelmann: „Wer in einer Gottesferne lebt, ist im Stande, jeden Kranken wegzuräumen“. „Geistliche Quellen“ zu den NS-Krankenmorden in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee, Irsee 2013, S. 82.